Klavierstudio Uhlandstraße Ulrich Pollmann Klavier spielen (oder doch ein anderes Instrument?) Was braucht man zum Klavierspiel? Zunächst natürlich eine romantische Seele. Und den Wunsch, dieser durch die Hände Ausdruck zu verleihen. Wohl die meisten Menschen finden den Klang des Klaviers schön und die Klavierliteratur von Barock bis Moderne ist unvergleichlich reich. Aber das Klavier stellt auch spezifische Anforderungen: Tasteninstrumente funktionieren ganz anders als Melodieinstrumente und sie sprechen auch andere Persönlichkeitstypen an. Während Melodieinstrumente hohe Ansprüche an die Erzeugung und Formung von Tönen stellen, liegt die Schwierigkeit (und der Reiz) der Tasteninstrumente im Denken von mehreren musikalischen Ebenen. Der Klavierspieler muss eine Vorstellung, ein inneres Bild von Begleitung, Akkorden, Melodie und gegensätzlichen Rhythmen entwickeln. Das Klavier stellt also andere Anforderungen an das abstrakte und räumliche Denken als beispielsweise eine Klarinette. Kann ein Spieler die Noten eines Melodieinstruments schnell lesen, so muss er im komplexen Klaviersatz Akkorde oder Tonleiterausschnitte als zusammenhängende Gruppen begreifen, was andere Ansprüche an die Lesefähigkeit und die musiktheoretischen Kenntnisse stellt. Ich erläutere diese Zusammenhänge im Beratungsgespräch und stelle kleine Aufgaben zur Koordination der Hände, um zu sehen, ob eine Begabung vorliegt.  Die unsichtbare Mauer (und wie man ihr Sinn abgewinnt) Ein heikles Thema: Als Klavierpädagoge wird man häufig mit Menschen konfrontiert, die die Erfahrung machen, ab einem gewissen Punkt im Klavierspiel keine Fortschritte mehr zu erzielen. Eine sehr demotivierende Sache, sicher mag es das auch bei anderen Instrumenten geben, aber wohl nicht in diesem Umfang. Der Grund liegt in den spezifischen Anforderungen des Instruments: Wer über gute Fähigkeiten zur Koordination und zum Speichern von Bewegungsabläufen verfügt, kann auf dem Klavier zunächst schnell Fortschritte machen. Aber wenn das musikalische Verständnis sich nicht entwickelt, kommt er dann an eine scheinbar unüberwindbare Grenze, an die unsichtbare Mauer. Die mechanische Natur des Instruments ermöglicht zunächst scheinbar schnelle Fortschritte, verweist dann aber umso gnadenloser auf musikalische Defizite. Wer keine innere Klangvorstellung und kein ausreichendes musikalisches Wissen entwickelt, rennt früher oder später gegen die unsichtbare Mauer. Deshalb ist das Klavier das am häufigsten gewählte und am häufigsten wieder aufgegebene Instrument.   Denkt man das zu Ende, versteht man allmählich die paradigmatische Stellung des Klaviers in unserer Kultur. Durch die unvergleichliche Musik eines Bach, Beethoven, Chopin oder Debussy ist es Inbegriff reinen Künstlertums. Denn die Möglichkeit, komplexe Musik alleine mittels der komplexen Mechanik erschaffen zu können, bietet nur das Klavier, das europäischste aller Instrumente. Andererseits ist es aber auch Innbegriff kleinbürgerlichen Spießertums, schon Heinrich Heine hat dazu boshafte Bemerkungen verfasst. Die Aussicht, mittels Mechanik ein wenig Teilhabe am Künstlerischen zu haben, ohne sich jedoch wirklich einlassen zu müssen, treibt noch heute viele Menschen zum Klavier – für kurze Zeit! Und viele haben ein Interesse daran, dass das so bleibt: Musiker ohne klavierpädagogische Ambitionen verdienen nebenbei Geld mit "Klavierunterricht", Eltern nutzen das Instrument zur Beschäftigungstherapie und als Statussymbol, Musikschulen blähen ihre Schülerzahl mit Klavierschülern, die in der überwiegenden Zahl nie wirkliche Berührung mit der Klavierwelt haben werden, auf. Und das Klavier hat selber schuld: Wenn ein Instrument die heilige Welt der Töne in einer so schamlosen Weise als Reihe mechanisch auszulösender Tasten präsentiert, darf es sich nicht wundern, wenn es missbraucht wird. Andererseits: Wer Heinrich von Kleists berühmten Text "Über das Marionettentheater" kennt, der weiß, dass die Entwicklung unserer Kultur über Mechanisierung und Technisierung zu einer neuen Geistigkeit führen muss. Und damit komme ich zur Conclusio dieses lästerlichen Textes: Als Klavierpädagoge kann man meist nicht ganz vermeiden, dass ein Schüler gegen die unsichtbare Wand läuft. Aber man kann ihn dabei begleiten und den Konflikt zwischen Mechanik und Geist fruchtbar machen. Er ist nicht nur ein Störfaktor, sondern paradigmatisch für die Bedeutung des Klaviers in unserer Kultur.  Berlin – Klavierstadt ohne Gedächtnis Vor 100 Jahren war der Klavierbau ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für die Stadt. Mehr als 200 Klavierbaufirmen, kleine mit vielleicht 10 Mitarbeitern, mittlere und auch große Unternehmen wie Bechstein oder Ibach beschäftigten vor dem ersten Weltkrieg mehrere Tausend Menschen. Übrig geblieben ist davon bekanntlich gar nichts. Geht man heute mit Schülern zu den Händlern, erlebt man oft frustrierte Klavierbauer, die immer nur eine Frage beantworten müssen: Geht es noch billiger? Verständlich, wenn jemand kein Geld hat und sich den Traum vom Klavier trotzdem zu erfüllen sucht. Aber oft ist es eben nicht Geldmangel sondern schlicht Banausentum, das die Leute davon abhält, ein anständiges Instrument zu kaufen. Ich kann nur dringend empfehlen, hier ein wenig traditionsbewusster zu sein und vor allen Dingen die Ohren zu öffnen. Instrument und Motivation                                                             Die Klavierfabrik Carl Bechstein in Berlin Was bewegt einen Menschen, so viel Zeit an einem Instrument zu verbringen? Die Motivation dazu ist sicher sehr individuell, aber meist spielt doch das Klangerlebnis eine große Rolle. Deshalb kann man vom Schüler schlecht Motivation erwarten, wenn er kein brauchbares Instrument zur Verfügung hat. Es ist nicht nur ein allgemein angenehmer Klang, sondern die Art, wie ein Instrument auf das Spiel reagiert (englisch heißt das sehr schön "responsiveness"), die letztlich für die Motivation entscheidend ist. Ich gebe etwas - das Instrument gibt zurück - ich reagiere wieder: So entsteht die Emotionalität, auf der Motivation gründet. Das erinnert Sie an etwas? Natürlich, der ausdrucksvolle Vortrag, durch eine Wechselwirkung zwischen Körperspannung, Ausdruckswille und klanglicher Reaktion des Instruments hervorgebracht,  wird seit jeher in die Nähe sexueller Energien gerückt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch Interesse am Instrumentalspiel hat, ohne ein emotionales Verhältnis zum Instrument zu entwickeln. Klavierspiel als spirituelle Erfahrung Dass Spiritualität ein zentrales Element jeder ernsthaften Musikausübung ist, versteht sich von selbst. Die ganze europäische Kunstmusik kommt mitsamt der Notation aus dem Sakralen, und das endet nicht mit Bach: Bis in die Gegenwart berufen sich Komponisten auf religiöse Inspiration. Tatsächlich wäre die ungeheuerliche und in der Menschheitsgeschichte beispiellose Entwicklung der europäischen Musik vom Mittelalter zur Renaissance über Barock, Klassik und Romantik bis zur Moderne ohne spirituelle Wurzeln undenkbar. Aber noch in einem anderen Sinn vermittelt Instrumentalspiel und gerade auch das Klavierspiel spirituelle Erfahrung: Es ist das Zusammenfallen von Zeit und Augenblick, von Fluss und Stillstand. Der Spieler lernt, das ganze Werk als inneres Bild anzunehmen und in der Zeit zu durchschreiten. In jedem Augenblick ist er ganz gegenwärtig, sieht das Werk also aus dem Augenblick heraus – als Ganzes. Es ist eine vieldimensionale Wahrnehmung, die diesen Zustand ermöglicht. Peter Feuchtwanger hat eine ganz spezielle Art, diese Wahrnehmung zu schulen: Er fordert, Bewegungen nicht vorzubereiten, besser gesagt: Die Handbewegungen werden zwar geistig im Sinne von Bewusstsein der Zeitabläufe vorbereitet, der Körper bleibt aber ganz in der Gegenwart, führt also genau die Bewegung aus, die gerade jetzt notwendig ist. Umfassendes Bewusstsein und Präsenz im Augenblick – das ist es wohl, was Feuchtwanger meint, wenn er sagt: Nicht ich spiele, ES spielt. Moderne Klaviermusik Neue Musik, Avantgarde, experimentelle Musik, atonale Musik: Hier gibt es viel Interessantes für das Klavier. Darüber hinaus ist diese Musik auch klavierpädagogisch sehr wertvoll, weil sie wie eine Ohrenspühlung wirkt. Dynamik, Tempo und Klang kann man mit Neuer Musik völlig neu erfahren und das kommt auch dem Spiel klassischer Musik sehr zugute. Immer wieder erlebe ich, wie Schüler klassische Musik eher gelangweilt und Neue Musik hochkonzentriert spielen. Ich kann nur jedem Klavierspieler raten, sich dieser Welt zu öffnen. Natürlich weiß ich auch, dass das Thema Neue Musik mit vielfältigen Ängsten besetzt ist, aber das ist ein guter Grund mehr, sich ihr zu öffnen.